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Dr Konstantinos Fytopoulos
Psychiater - Homöopathischer Arzt - Psychotherapeut

Der Prozess der Individuation und der Selbst - Entdeckung

Individuatiosprozess

von Konstantinos Fytopoulos

Es war ein sommerlicher, von der Sonne verwöhnter Morgen. Hohe Pinien um mich herum warfen einen langen Schatten und die Piniennadeln tanzten, jede von ihnen in ihrem unbestimmten Rhythmus. Es wehte ein angenehmer Wind und ich saß auf einer Bank im Park von Katerini mit meinem Fuß in Gips und konnte meine unvorhergesehene Schwerfälligkeit nicht akzeptieren. Ich starrte die Pinien an und fühlte ihre Ruhe, ihren leisen und stillen Rhythmus, ihr unterschiedliches Tempus. Irgendwann stand ich auf und ging ganz träge in die Bibliothek, die heute noch in der Nähe liegt. Links, nach der Tür, “sah“ ich zum ersten Mal fast die Gesamtheit aller übersetzen Werke von C.G. Jung. So etwa begann, vor 25 Jahren, mein erster Kontakt mit C.G Jung und mit den Systemen innerlicher Entwicklung. 

Die Frage nach der inneren oder geistigen Entwicklung des Menschen war bis vor kurzem ein ausschließliches Gebiet der Esoterischen Schulen, sowie der verschiedenen Religionen. Mit dem Begriff „Religion“ meinen wir nicht ihre äußere oder ihre weltliche Organisation sondern ihre innere Dimension, ihren inneren Charakter, welcher gewöhnlich durch persönliche Erfahrung vom Lehrer zum Schüler, vom Eingeweihten zum Neophyten und vom Greis zum Jungen übertragen wird. 

Auf diese geistige Entwicklung und Umwandlung der Person stieß auch C.G. Jung,   bei seinem Versuch den Inhalt des Unbewussten auf  ganz unterschiedliche Art und Weise zu erforschen und zu erhellen, auf dem Weg der Psychologie und der Wissenschaft. 

 

Der grundlegende Impuls

Die Psychologie ist eine relativ neue Wissenschaft. Sie existiert erst seit einhundert Jahren. Als eigentliche Geburtsstunde gilt die Zeit um das Jahr 1900 durch Freuds Veröffentlichungen bzw. durch die Traumdeutung und durch die Entdeckung des Unbewussten: das unbekannte Gebiet unserer Psyche, welches unbewusst auf unsere Taten, unser Wohlbefinden und unsere tieferen Gedanken einwirkt, das entlegene Gebiet voller verdrängter Gefühle wie Angst und Furcht, das  unsere unerfüllten Hoffnungen und unsere zensierten Wünsche beeinflusst….  

Freud hat es als das Gebiet der primären Wünsche beschrieben (besonders der sexuellen Wünsche), welche der bewusste Verstand für unannehmbar hält und diese zu verdrängen versucht. Nach Freud ist der Sexualtrieb der wesentliche Urinstinkt des Menschen, welcher unseren Gemütszustand bewegt. In Bezug auf seine Annahme distanzierten sich im Beginn der psychoanalytischen Bewegung einige von  seinen Schülern. Adler behauptete, dass der Urinstinkt des Menschen die Neigung und das Bedürfnis nach Durchsetzung, Vorherrschaft und Kraft sei. Alle diese erwähnten Instinkte, die wir uns offensichtlich mit dem Tierreich teilen und welche notwendig für die Evolution der Arten sowie für unser persönliches Überleben sind, stehen nach dem modernen Schweizer Eingeweihten und Psychologen Manuel Schoch in enger Verbindung mit den hormonabhängigen Gefühlen der Aggressivität und der Angst. 

C.G. Jung (1875-1961) aber entdeckte außer diesen Instinkten noch einen Trieb, der bedeutsamer in Bezug auf die zwei vorherigen und welcher charakteristisch für den Menschen ist: der Instinkt bzw. Trieb der Selbstverwirklichung, der Drang nach persönlicher Vollendung und nach Vollständigkeit. Ein besonders starker Trieb für manche Menschen, welcher sie, ohne Rücksicht auf Mühe und Kosten, auf die Suche nach dem Selbst, nach Ganzheit und nach Vollständigkeit antreibt, also auf die Suche nach dem wahren Selbst. Ein Trieb, der die “schnellen“ hormonabhängigen Gefühle in “langsame“ umwandelt: in innere Gelassenheit, Glück, Ekstase, Glückseligkeit und uneigennützige Liebe (Manuel Schoch).      

 

Individuation 

In der letzten Zeit ist viel über Begriffe wie Selbstverwirklichung, persönliche Vollendung, Entwicklung des Bewusstseins gesagt und geschrieben worden. Was ist aber das Bewusstsein, welches sich weiterentwickeln lässt? Was ist das “Selbst“, das zur Verwirklichung aufgerufen wird? Ist also mein “Sein“ etwas, das schon existiert oder etwas, das sich im Laufe meines Lebens ergeben wird? Verlangt es von mir irgendeine aktive Bemühung  oder ist es eine normale Entwicklung wie die Ausreifung des Körpers oder wie die Entwicklung eines Baumes? 

Solange man aber auf solche Begriffe und deren Bedeutungen fokusiert, umso mehr entziehen sie sich unserer Wahrnehmung. Die obigen Probleme bildeten C.G. Jungs Kernproblematik. In seinen ersten  Jahren als Psychiater arbeitete Jung in einer schweizer psychiatrischen Klinik. Dort, wo er grundsätzlich mit psychotischen kranken Menschen arbeitete, machte er folgende überraschende Feststellung: Es ist ihm aufgefallen, dass die Fantasien und Illusionen seiner Patienten Übereinstimmungen mit den alten Mythen aufwiesen. Das merkwürdige dabei war, dass es den meisten seiner Patienten nicht möglich gewesen war von diesen Mythen jemals gehört oder gelesen zu haben.      

Wie lässt sich aber dieses Phänomen erklären? Jung entdeckte, dass in der menschlichen Psyche ein unbewusster Bereich existiert, welcher von globalen Symbolen aus verschiedenen Religionen und von alten sowie neuzeitlichen Mythen geprägt ist. Diesen Bereich nannte Jung “das kollektive Unbewusste“. Diese Symbole dieses Bereichs erzeugen Kräfte (oder besser gesagt unbewusste Existenzen), die bei allen Menschen gleich sind, die bekannten Archetypen. Das kollektive Unbewusste bildet somit den Bereich bzw. das Netz, in dem wir alle untereinander und mit der Quelle unseres Seins verbunden sind.

Die meisten psychotherapeutischen Schulen haben zum Ziel, ihre Patienten von den psychopathologischen Problemen zu befreien und ihnen ein ausgewogenes Dasein zu bieten - was natürlich legitim und äußerst nützlich ist. Wenn aber jemand, nach Jung, den Sinn seines eigenen Lebens nicht findet, kann er im Wesentlichen weder als gesunde noch  als ganzheitliche Persönlichkeit gelten, weil das, was er für sein “Ego“ hält, nicht der Gesamtheit seines Selbst entspricht. Es ist nichts anderes als ein kleiner Teil, wie die Spitze eines Eisberges, wo der größte  Teil sich unterhalb des Meeresspiegels befindet. Das Leben, das jemand erlebt, richtet sich gewöhnlich nur nach dem Verlangen seines wahrnehmbaren „Ichs“, bzw. nach seinem alltäglichen  Selbst, mit seinen verschiedenen  „ich will – ich will nicht“, wobei man aber die Forderungen seines tieferen Selbst ignoriert. Je mehr sich also jemand von seinem wirklichen Selbst von der inneren Kraft entfernt, desto mehr versucht das Unbewusste ihn auf seinen persönlichen Weg zu führen.   

Die Möglichkeit, die jemand zur persönlichen Entfaltung hat, bzw. die ganze Prozedur der Erforschung des persönlichen Bewusstseins bezeichnet Jung als Individuation und er vergleicht sie mit der Entfaltung, bzw. der graduellen Entwicklung eines Baumes. Aber wie alle Samen eines Baumes sich nicht  zum Baum entwickeln, so werden auch nicht alle Psychen ihre Individuation vollenden bzw. werden nicht “blühen“.

Die Möglichkeit der Individuation ist in den Symbolen der Umwandlung enthalten, welche jemanden mit seiner inneren Quelle in Kontakt bringen können („das Selbst“ nach der Terminologie von C.G. Jung, “das Atman“ nach der indischen oder das “Dao“ nach der chinesischen Überlieferung). Diese Symbole existieren zwar, sind  aber tief verborgen. „Die Natur liebt es, sich zu verbergen“ hieß es nach Heraklit von Ephesus und wahrscheinlich hat sie auch ihre Gründe dafür. Nach Gurdjieff sind es die gleichen Gründe, die den Menschen den Zugang zu den höheren Zentren unmöglich machen. Es ist der Schatten, der wie ein Zerrspiegel den Pietätlosen  den Zugang verweigert.

 

Die Begegnung mit dem Schatten

Eine griechische Volksweisheit sagt, dass jemand den Buckel seines Nachbarn sieht, aber nicht seinen eigenen. Man erkennt also die Fehler des anderen, man stellt sich gegen ihn, man wird wütend und letztendlich… geht man dann auch ganz ruhig ins Bett und schläft. Dies geschieht aber, weil all dies Teil einer unbewussten Existenz ist und deswegen ist man emotional betroffen, wenn man diese  Fehler bei den anderen sieht (Projektion). Wenn also jemand diese Projektion auf sich zieht, dann, weil die andere Person offensichtlich über diese konkreten Merkmale verfügt. Es funktioniert, nach Jung, wie ein Haken, der die Inhalte des Schattens des anderen von ihrem dunklen Zufluchtsort an die Oberfläche bringt. Keiner kann somit behaupten, dass er sich selbst kennen zu lernen versucht, oder das er sich kennt und weiß, was mit ihm los ist, wenn er ständig seine Wesensmerkmale auf andere überträgt bzw. projiziert, oder wenn er sie ignoriert. Es ist kein Zufall, dass die strengsten Ankläger die angeblichen “Unschuldigen“ sind, also diejenigen, die ihren Buckel nicht sehen können oder nicht sehen wollen.  

Der Schatten lässt sich nicht unbedingt mit dem Bösen oder dem Teufel gleichsetzen. Er beinhaltet einfach alle diejenigen persönlichen Merkmale, die wir als unsere nicht annehmen und akzeptieren können. Würde man den Schatten mit einem objektiven Blick betrachten, so wäre man in der Lage zu erkennen, dass dieser öfters bedeutsame Vorteile enthält, welche wir uns aber aus irgendeinem Grund nicht erlauben sie zu sehen bzw. zu haben. Da er  hauptsächlich als Projektion an die Oberfläche tritt und als (unbewusster) Schatten weiterhin dableibt, bildet diese Projektion bzw. der Schatten den Wächter der Pforte für unseren inneren Schatz. Wenn wir ihn aber erkennen und akzeptieren, dann kann er sich in einen Verbündeten umwandeln. 

Jung untersuchte in seinen Werken „Antwort auf Hiob“, „Aion, das Zeichen der Fische“ und „Der Archetyp des Totalitarismus“ die kosmologische und kollektive Dimension des Schattens. Dennoch sah Jung die Lösung in der persönlichen individuellen Erweiterung des Bewusstseins und  in der Individuation.

Deswegen bildet das Unbewusste weder eine Bedrohung weder noch eine Quelle der Furcht. Es ist der Springbrunnen des Lebens, sowohl für die Person bzw. das Individuum, als auch für alle Völker der Welt. Die Risiken, die jemand auf dem Weg zur Selbstentdeckung antreffen wird, sind natürlich vorhanden. Das, was aber wirklich zählt, ist die Erfahrung. Der Existenz dieser Risiken wird man sich bewusst, wenn man während  der inneren Reise mehrmals stolpert und hinfällt. Sogar Ibsen hat sich schon in dieser Art geäußert: „Das Leben ist ein Risiko. Mehr Risiko kann auch mehr Leben bedeuten“. Das Risiko hat hier einen Zweck. Es ist die “Verwirrung“ von Rumi (Verkaufe deine Gescheitheit und kaufe dafür Verwirrung), oder die “Unsicherheit“ der time therapy. 

Der Mensch lernt durch seine Enttäuschungen, und indem er sich von der Sicherheit und der Illusion des Wissens und der Kontrolle abwendet, bekommt er die Frische der Unschuld und des Kinderblicks wieder. Er erlangt die Fähigkeit der direkten Erfahrung der Welt (Innen- und Außenwelt) wieder, befreit von der verzerrenden Linse des Urteilens- Vergleichens, der Auslegung und der Beschreibung- Klassifizierung. Die innere Reise besteht natürlich nicht nur aus Risiken. Sie hat auch Stationen bzw. Veränderungen, welche die innere Reise wandeln. Dieser Versuch führt demnach zu einem “reichen Leben“, zur einer anderen Existenzqualität, welche am Anfang zwar vom Egozentrismus geprägt ist, aber am Ende sich davon  entfernt. 

 

Das andere innere Geschlecht

Wenn jemand beim Prozess der Individuation seinem Schatten begegnet und sich mit ihm konfrontiert (was grundsätzlich als Lebenswerk bezeichnet wird), entdeckt er früher oder später einen anderen Archetypen seines persönlichen Unbewussten. Der Mann begegnet der inneren Frau und die Frau dem inneren Mann…

Die Tätigkeit des Unbewussten in Bezug auf das Bewusste ist ausgleichend, weil im Bewusstsein des Menschen die Merkmale seines Geschlechts und im Unbewussten diese des anderen Geschlechts vorherrschen. „Im Unbewussten jedes Mannes verbirgt sich eine weibliche Seite und bei jeder Frau eine männliche “ schrieb Jung und nannte diese verborgenen Persönlichkeiten Anima und Animus. 

Die Archetypen von Animus und Anima treten im Bewussten entweder durch Projektion oder durch Identifizierung auf. Wenn diese bei einer existierenden Person des anderen Geschlechts erscheinen bzw. projiziert werden, dann ergibt sich die so genannte Liebe auf den ersten Blick. Anima ist für den Mann die ideale Existenzform der Frau. In ihrer negativen Gestalt führt sie ein ausschweifendes Leben und verkörpert die Femme fatale, die mit ihrem Charme „mit ihm (dem Mann) macht was sie will”. Die Literatur und die Kino-Thematik sind von solchen Gestalten voll. Der deutsche Film von 1930, „Der blaue Engel“, von Josef von Sternberg zeigt als Protagonisten einen autoritären Lehrer, der sich in eine Sängerin (Marlene Dietrich) aus dem Variete verliebt. Die Sängerin erniedrigt ihn mit ihrem Charme, während sie in ihrer positiven Gestalt als Muse bzw. als Idealfrau erscheint. Sie ist die Beatrice von Dante, die Göttin Isis in Apuleius Traum, Sunamita vom Hohelied.

Animus tritt in den Träumen oder in den Projektionen der Frauen als Ritter, als Jäger des Abenteuers, als der charmante Dieb oder als die gefährliche Gestalt von Blaubart auf. Von der positiven Seite her gesehen personifiziert er den Geist der Initiative, den Mut, die Ehrlichkeit. Von der negativen Seite her personifiziert er den Starrsinn, das starre Festhalten an absoluten Ideen,  die mangelnde Flexibilität. Auf jeden Fall sind Animus und Anima eher dämonische, transzendentale Gestalten als menschliche. Der Prozess der Individuation folgt dem Weg, den die inneren Konflikte prägen.

Jung begriff, dass die Lösung nicht in der Unterdrückung des Konflikts selbst oder in der Vorherrschaft des einen Pols liegt, sondern in der Versöhnung der Gegensätze im „conjunction oppositorum“, also durch eine “innere heilige Hochzeit“. Es handelt sich um das Hervortreten einer dritten Kraft, um eine verwandelnde Kraft, welche die Vereinigung der Gegensätze übersteigt. Die Vereinigung mit der inneren Frau bzw. dem inneren Mann setzt den Rückzug der Projektionen von Animus und Anima auf andere voraus, sowie die Befreiung von aller Art Identifizierung. 

Wo dieser schöpferische Kontakt kreativ wird und erhalten bleibt, fließt eine neue Art von Energie durch den Menschen. Dies bedeutet nicht, dass der Mensch, in dem diese Energie fließt, ein windstilles Leben lebt. Ganz im Gegenteil. Der Mensch hat heutzutage mehr als je zuvor um sein Leben zu kämpfen. Jedoch kämpft er nicht umsonst. Neue und schöpferische Springbrunnen sprudeln aus seiner Tiefe hervor und in diesem Kampf wird dem Menschen bewusst, dass er als Kanal dient, durch den “schöpferische Gewässer“  in sein Leben fließen.

 

Die Begegnung mit dem Selbst

Bei der Verbindung mit dem inneren Mann bzw. der inneren Frau ist die Frau nun in der Lage alle Elemente der Kraft, der Entschlossenheit und des Mutes, die sie bisher in die Männer projizierte, in ihre bewusste Haltung einzugliedern, während der Mann die weiblichen Qualitäten der Empfänglichkeit und der Flexibilität erwirbt. Dann verändert sich das Unbewusste und es erscheint nun mit den Symbolen des eigenen Selbst.    

Das Selbst, der tiefste Kern der Seele, erscheint in den Träumen einer Frau in der Gestalt eines hohen weiblichen Wesens, z.B. einer Priesterin, Zauberin, Göttin usw. Bei den Männern erscheint es in der Gestalt des alten Weisen, des Guru usw. Außerdem, aber seltener, kann es die Gestalt eines Tieres, bekannt aus den Märchen, oder eines Steins, eines Edelsteins, annehmen.

Genau hier wird die Verbindung des Selbst (des inneren Kerns der Seele) mit dem Stein der Weisen bzw. der Alchemisten klar. Der arabische Alchemist Morienus sagt: „Dieses Ding (Stein der Weisen) wird aus dir extrahiert, du bist sein Mineral und du kannst es in dir finden, oder, um es noch klarer zu sagen: sie (die Alchemisten) nehmen es aus dir. Wenn du dies erkennst, wird deine Liebe und Verehrung des Steins noch in dir zunehmen. Wisse, das ist ohne Zweifel wahr“.

In der Gestalt des kosmischen Menschen erscheint das Selbst in unzähligen Mythen und religiösen Lehren als die göttliche Hilfskraft. Die Eingeweihten des Ostens, aber auch die Gnostiker des Westens verstanden, dass es sich eher um ein inneres psychisches Bild als um eine objektive Wirklichkeit handelte. Gemäß einer indischen Tradition lebt es im Menschen und bildet seinen einzigen unsterblichen Teil. Dieser innere “Große Mensch” führt die Person aus ihrer kreierten Welt hinaus, damit sie die Ewigkeit ihrer ursprünglichen Ursphäre wiederherstellt. Die Rolle des Erlösers kann dieser innere große Mensch nur dann spielen, wenn die Person aus ihrem tiefem Schlaf erwacht, diesen erkennt und ihm somit erlaubt ihn weiterzuführen.

Der kosmische Mensch bildet, gemäß vieler Mythen, das Endziel des Lebens, sowie die Daseinsberechtigung der Schöpfung. Meister Eckhart sagt: „Alles Korn  meinet den Weizen, alles Metall meinet Gold, alle Geburt meinet den Menschen”. Trotz der Zuspitzung im obigen Zitat spiegelt es eine psychologische Wirklichkeit wieder, insofern die äußere Wirklichkeit in Bezug auf ein Bewusstsein existiert, welche sie  wahrnimmt und als solche auch erleuchtet. Im Westen wurde der kosmische Mensch oftmals mit Christus gleichgesetzt, im Osten dagegen mit Krishna oder mit Buddha. Das Selbst kann aber auch die Gestalt eines Hermaphroditen oder eines Königspaars annehmen. 

Das bekannteste Bild  des Selbst, welches bei Jung eine besondere Anziehungskraft ausübt, ist das Mandala. In Sanskrit bedeutet Mandala heiliger Kreis (wörtlich: „das, was einen Mittelpunkt umkreist”). Jung erklärt: „Es gibt zahlreiche Mandalatypen… Ein Mandala ist meist quadratisch oder kreisrund und stets auf einen Mittelpunkt orientiert. Alle Typen basieren also auf der Quadratur des Kreises. Es ist eine Art Mittelpunkt der Seele, mit dem alles verbunden und alles in Ordnung ist und bildet somit von allein eine Energiequelle”.         

Die “Quadratur des Kreises“, eines der ältesten, ungelösten mathematischen Problemen, symbolisiert hier die Inkarnation der göttlichen Natur des Menschen in   der Stofflichkeit. Wenn der Archetyp des Selbst in jemandes persönlichem Leben erscheint (gewöhnlich in der zweiten Hälfte des Lebens), bietet er eine Quelle des Sinnes für die Existenz und für das Leben. Natürlich ist der Weg der Individuation  nicht linear geprägt, wie aus Gründen der Beschreibung aufgeführt wurde. Niemand könnte z.B. sagen: „Jetzt habe ich meine Individuation vollendet, ich gehe zum nächsten über”.

Nein. Es ist eine dauerhafte. Kommunikation mit den Tiefen des Unbewussten, mit unserem  ganzen Selbst. Die Symbole tauchen entweder spontan oder überhaupt nicht auf. Ein wichtiges Stadium ist, diese transformativen Symbole verstehen zu können. Wenn das Verständnis fehlt, dann ergibt sich zwar eine bestimmte Reifung der Person und eventuell auch eine Harmonisierung seiner Denkweise bzw. Geisteshaltung, welche aber nicht bewusst sein wird. Die kritischen Phasen des Prozesses werden öfters von aufeinander abgestimmten Ereignissen begleitet, welche somit der Person helfen können, ihr Innenleben bzw. “sein Inneres“ mit “seinem Äußeren“ zu verbinden. 

Als letztes muss noch betont werden, dass die Individuation eine äußerst persönliche Angelegenheit und deswegen lebendig ist. In jedem Fall tötet sie jegliche Nachahmung ab… Während die Verbindung von realer Erfahrung und  persönlicher Authentizität sie erweckt.

 

Schließen wir mit einem Auszug von Jung:

„Diejenigen, die in Gesellschaften mit stabilerer Basis als der unseren leben, begreifen leichter, dass es vonnöten ist, die utilitaristischen Pläne unseres bewussten Geistes zu verleugnen, damit wir unser innerliches Sein entwickeln können. Eines Tages traf ich eine Frau in einem gewissen Alter, welche nichts Besonderes in ihrem Leben geschafft hatte, da sie ihre Kräfte mit äußeren Angelegenheiten aufgebraucht hatte. Dennoch hatte sie es geschafft sich mit ihrem Mann, der einen äußerst schwierigen Charakter hatte, zu verständigen und erlangte auch die psychische Reife. Als sie sich bei mir beschwerte, dass sie nichts in ihrem Leben  erreicht hatte, erzählte ich ihr eine Geschichte des weisen Chinesen Chuang Tzu (auch Zhuangzi). Sie verstand sofort und beruhigte sich.   

 

Die Geschichte lautet: 

Ein wandernder Zimmermann namens Petro sah auf seinen Reisen einen alten gigantischen Eichenbaum in der Nähe eines unbearbeiteten Altars. Der Zimmermann sagte zu seinem Lehrling, welcher die Eiche bewunderte: „Das hier ist ein nutzloser Baum. Wolltest du ein Schiff daraus machen, würde es sofort verfaulen. Wolltest du Geräte daraus machen, würden sie zerbrechen. Aus dem Baum lässt sich nichts machen; man kann ihn zu nichts gebrauchen. Deshalb konnte er so alt werden.“ 

In derselben Nacht, in der Herberge, sah er die Eiche in seinem Traum und der Baum sagte zu ihm: „Warum vergleichst du mich mit euren kultivierten Bäumen, wie dem Birnbaum, dem Orangenbaum, dem Apfelbaum und allen anderen Obstbäumen? Noch bevor die Früchte reif werden, werden sie von den Menschen vernichtet und sie brechen Zweige und Äste ab. Die Früchte, die sie geben, schaden den Bäumen und sie freuen sich nicht über ihr Leben, bis zu ihrem natürlichen Ende. Dies geschieht überall und deswegen habe ich vor langer Zeit versucht, gänzlich  nutzlos zu werden. Unglücklicher Sterblicher! Glaubst du, wenn ich von Nutzen wäre, dass sie mich hätten so groß werden lassen? Dennoch sind du und ich, also wir beide, zwei Geschöpfe, und mit welchem Recht verurteilt ein Geschöpf das andere? Oh du unglücklicher Sterblicher, was weißt du über die Nutzlosigkeit der Bäume?” Der Zimmermann wachte auf, dachte über den Traum nach und später, als der Lehrling ihn fragte, warum es nur einen einzigen Baum gäbe, der den Altar schützt, antwortete er: „Sei still! Sprechen wir nicht mehr darüber. Dieser Baum  spross dort absichtlich, denn überall anderswo hätte man ihn vielleicht gefällt“.      

Der Zimmermann erkannte, dass die Erfüllung seiner Bestimmung die größte Leistung eines  Menschen sei und dass der Utilitarismus nach den Ansprüchen der unbewussten Psyche zurückweichen muss. Wenn wir diesen metaphorischen Begriff mit psychologischen Begriffen ausdrücken, symbolisiert der Baum den Prozess der Individuation und er erweist sich somit als eine gute Lehre für unser kurzsichtiges Ego.“   

 

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